„Ich komm und weiß nicht woher“.

Auszüge aus meinem Buch: Untertitel – Ein Denkmal für Leonie-

Epilog von Otto Patzelt:

EPILOG
Wo gibt es Denkmale für die zerstörten Frauen der vergangenen Kriege, Denkmale ihrer Unterdrückung? Mütter trauern um ihre Söhne, Frauen um ihre Männer, Kinder um ihre Väter an den Kriegerdenkmalen der Welt. Wo trauern Kinder um ihre Mütter, Männer um ihre Frauen? Sie haben in den Bombennächten ihre verängstigten und kranken Kinder betreut, die gebrechlichen Alten dazu, mussten täglich in den Rüstungsfabriken schuften. Als der Krieg zu Ende war, wurden sie von den Siegern geschändet und gedemütigt. Als Trümmerfrauen räumten sie die verschütteten Straßen frei, klopften sie die Ziegel für den Wiederaufbau ab.
Viele dieser Heldinnen konnten die Schrecknisse nicht mehr ertragen, von Müdigkeit und Verzweiflung überwältigt wollten sie ihrem Leben ein Ende setzen; doch sie mussten und wollten für ihre Kinder weiterleben. Es gibt wohl Denkmale für die Trümmerfrauen, was gut ist. Ich wünschte mir aber auch die Klagen und Heldentaten der Frauen, die unser Weiterleben nach dem Krieg ermöglicht haben, in Granit gemeißelt oder in Bronze gesetzt.
Leonie kam als ungewolltes Kind kurz vor dem Ersten Weltkrieg auf diese Welt. Sie wurde noch ungeboren verkauft, da sie die Moralgebote der Gesellschaft störte. Sie hatte noch Glück, sie fand nach den Schrecknissen ihrer Geburt freundliche Pflegeeltern. Tausende anderer Kinder wurden an Menschen verschachert, die sie wie Leibeigene hielten, oder, als das Geld dahin war, verkommen ließen. Ich durfte noch mit Menschen befreundet sein, die die Jahrhundertwende 1900 bewusst erlebt haben. Zeitzeugen erzählten begeistert, mit welchen Hoffnungen das neue Jahrhundert begann. Alles sollte besser, schöner, lieber, lichter, intelligenter und menschlicher werden. Gerne würde ich sie, lebten sie noch, fragen: „Habt ihr euch, außer um euch selbst, auch um andere gekümmert? Wusstet ihr nichts von Stätten wie Kaltennordheim? Euch verklärte Gutmenschen klage ich an, mit billigem Gerede die Massen vernebelt zu haben, vorgegeben zu haben, dass alles doch gut werde. Was waren die Verheißungen der Ideologen, Gurus, Politiker und anderer Schönredner anderes für eure Ohren als Beruhigung eurer überreizten Nerven? Natürlich gab es auch Wohltäter, und die sollen gerühmt sein. Anstalten wie die von Dr. Krieg in Kaltennordheim sind nicht anzuklagen, sie haben den Ausgestoßenen geholfen, Leben gerettet. Umsonst war auch hier nichts. Schändlich und blöde ist es, diese Einrichtungen mit antisemitischen Parolen zu beschimpfen. Einen Artikel über die Engelmacherinnen von Kaltnnordheim soll es geben, leider haben wir diesen nicht auffinden können (Engelmacherinnen hatten, so wurde berichtet, nicht vermittelbare Kinder verhungern lassen, sie zu Engeln gemacht). Als uns eine grundgütige Frau davon erzählte, erstarrte ich vor Empörung. Sie schaute mich aus ihren sanften Augen an und meinte ruhig: „… es wollt’ sie doch eh keiner haben …“ Sie beschönigte nichts, aber ich war mit einem Mal beschämt. Was tun wir denn in dieser, unser schrecklichen Zeit? Es kommen wieder finstere Zeiten. Ich hoffe, meine Kinder und Kindeskinder und alle anderen werden vielleicht verschont. Muss sich alles, in andere Gewänder gehüllt, wiederholen? Wird der kalte Wind der Gegenwart und der nahen Zukunft die dünne Haut unserer Kultur wieder zerreißen?
Das Schicksal der Leonie Keller mit seinen Schrecknissen, den unendlichen Mühen und wenigen Freuden steht für mich stellvertretend für das Los von Millionen anderen Frauen, die in jenem unseligen Zeitalter geboren wurden. Es darf nicht vergessen werden!
Otto Patzelt

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